COVID19-Notrecht: unklarer Arbeitnehmerschutz
Unklare Sonderbehandlung von Angehörigen der «Risikogruppe» trotz BAG-konformem Schutzkonzept des Arbeitgebers
CORONA allüberall. Wohl dank der prägnanten Führung des Bundesrates konnte – bis anhin – Schlimmeres vermieden werden. Allerdings wurde speziell das Gastgewerbe von den bundesrätlichen Notmassnahmen besonders hart getroffen. Getreu dem Grundsatz «Lieber 80% rechtzeitig als 100% zu spät» wurde manche Regelung zwar zeitgerecht erlassen, deren Unklarheiten oder Lücken werden aber erst in der praktischen Umsetzung sichtbar. - So bezwecken beispielsweise die gestützt auf das eidgenössische Epidemiegesetz erlassenen Massnahmen der COVID19-Verordnung 2 vom 13. März 2020 (Stand 20.06.2020) die Verminderung des Übertragungsrisikos und die Bekämpfung des Coronavirus, unter anderem durch den Schutz „besonders gefährdeter Personen“. Als solche gelten Personen ab 65 Jahren und Personen mit Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Krebs und Erkrankungen sowie Therapien, die das Immunsystem schwächen.
Sonderschutz von Arbeitnehmenden der „Risikogruppe“
Als coronabezogener Ausfluss der arbeitgeberischen Fürsorgepflicht (Art. 328 OR) wurde dem Arbeitgeber eine ganze Kaskade spezieller Pflichten betreffend den Schutz der Gesundheit von besonders gefährdeten Arbeitnehmenden auferlegt (Art. 10c COVID19-VO2 / vgl. Kasten). Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, solange dieser Schutz mit vertretbarem Aufwand zu erreichen ist. – Was aber, wenn dies im Einzelfall nicht ausreicht oder dem Arbeitnehmenden nicht genügt?
Praxisbeispiel: Arbeitnehmer der „Risikogruppe“ mit Maskenunverträglichkeit
Ein Teilzeit-Angestellter blieb mit Bekanntwerden des behördlichen Lockdowns ab dem 13. März 2020 von sich aus zu Hause. Der Betrieb beantragte und erhielt Kurzarbeit. – Zur Wiedereröffnung am 14. Mai 2020 liess der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber ein ärztliches Attest zukommen, welches eine relevante Vorerkrankung bestätigte. Zudem wurde eine nicht ansteckende Hustensymptomatik erwähnt; aber keine Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit. Trotzdem wollte der Arbeitnehmer aufgrund seiner besonderen Gefährdung vorerst nicht zu Arbeit erscheinen. – Nachdem der Arbeitgeberin im Betrieb ein BAG-konformes Schutzkonzept eingerichtet hatte, forderte sie den Arbeitnehmer schriftlich zur Wiederaufnahme der Arbeit ab dem 15. Juni 2020 auf. Dieser verweigerte schriftlich mit der Begründung, dass er aufgrund seiner Vorerkrankung nicht in der Lage sei, die gemäss dem betrieblichen Schutzkonzept und seit dem 6. Juli 2020 gemäss behördlicher Anordnung auch im öV erforderliche Schutzmaske zu tragen. Insbesondere sei für ihn unzumutbar und psychisch zu belastend, allen reklamierenden Kunden und Passanten zu erklären, dass er unter einer ärztlich bescheinigten Maskenunverträglichkeit leide und sein Husten nicht ansteckend sei. – Allerdings ist es dem Arbeitgeber auch nicht möglich, diesen Arbeitnehmer im Home-Office oder an einer anderen Stelle im Betrieb zu beschäftigen. Er konnte den Arbeitnehmer vorderhand in der individuellen Kurzarbeit behalten.
Unklare Rechtslage bei «Freistellung unter Lohnfortzahlung»
Die COVID-19-Verordnung 2 hält dazu in Art. 10c Abs. 7 lapidar fest: Ist es nicht möglich, den betroffenen Arbeitnehmer nach den genannten Vorgaben zu beschäftigen, oder lehnt dieser die zugewiesene Arbeit ab, so stellt der Arbeitgeber ihn unter Lohnfortzahlung frei. So einfach, so unklar. Denn „Freistellung“ bedeutet rechtlich „freiwilliger Verzicht des Arbeitgebers auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers bei vollem Lohn“, oftmals praktiziert während der Kündigungsfrist. Dagegen versteht man unter „Lohnfortzahlung“ die „Entrichtung des Lohnes bei unverschuldeter Arbeitsverhinderung des Arbeitnehmers an der Arbeitsleistung während einer beschränkten Zeit“. Allerdings ist unklar und deshalb umstritten, ob der Verordnungsgeber vorliegend tatsächlich auf Art. 324a OR Bezug genommen hat, ergo nach Ablauf der „beschränkten Zeit“ (je nach Dienstalter und Entschädigungs-Skala) die Lohnzahlung entfällt, oder ob der Verordnungsgeber meint, die Lohnfortzahlung dauere so lange wie die Geltungsdauer dieser Notverordnung (zurzeit bis am 13.09.2020 [Art. 12 Abs. 1 u. 3 COVID19-VO2]).
Unklares Verhältnis zum Kündigungsrecht
Die in der Schweiz grundsätzlich geltende Kündigungsfreiheit (Art. 335 ff. OR) wird bei unverschuldeter Verhinderung des Arbeitnehmers gesetzlich eingeschränkt (Art. 336c OR). Zwar stellt das „ärztliche Attest der besonderen Gefährdung“ nach bisher überwiegender Auffassung per se kein Arztzeugnis über eine Arbeitsunfähigkeit dar. Demzufolge wird die Absenz des Arbeitnehmers auch nicht von der Krankentaggeldversicherung gedeckt, und die „individuelle Kurzarbeit“ ist bis längstens August 2020 befristet. Sodann werden mangels Krankheit im Fall einer ordentlichen Kündigung durch den Arbeitgeber auch keine Kündigungssperrfristen gemäss Art. 336c Abs.1 lit.b OR ausgelöst. Allerdings ist denkbar, dass der Arbeitnehmer diese Kündigung als missbräuchlich mit dem Argument anfechten könnte, sie sei bloss ausgesprochen worden, weil er seine legitimen Ansprüche gemäss Art. 10c der COVID-19-Verordnung 2 geltend gemacht hatte (Art. 336 Abs. 1 lit.d). Falls das Gericht im konkreten Fall auf Missbräuchlichkeit erkennen würde, wäre die Kündigung zwar gültig, der Arbeitgeber hätte dem Arbeitnehmer jedoch – nebst dem Lohn während der Kündigungsfrist - eine sogenannte Poenale bis maximal 6 Bruttolöhne zu entrichten (Art. 336a OR). Dazu ist bis dato noch keine Gerichtspraxis bekannt.
Fazit: Auflösung des Arbeitsvertrages im gegenseitigen Einvernehmen anstreben
Leider ist den bundesrätlichen Erläuterungen zu COVID-19-Verordnung 2 noch kein erhellender Hinweis zur angesprochenen Problematik zu entnehmen. Da die CORONA-Situation sich aber unabsehbar in die Länge ziehen könnte, ist es empfehlenswert, mit einem der Risikogruppe angehörenden Arbeitnehmenden, der weder im Home-Office noch - trotz BAG-konformem Schutzkonzept - im Betrieb beschäftigt werden kann oder der eine legitime Beschäftigung aus Sorge um seine Gesundheit ablehnt, eine schriftliche Aufhebungsvereinbarung anzustreben, welche die beidseitigen Bedürfnisse möglichst berücksichtigen soll. Dies im Bewusstsein, dass das Prozessrisiko beidseits nicht unbeträchtlich und entsprechend kostspielig sein kann. Da in diesem Zusammenhang viele rechtliche Rahmenbedingungen (Art. 341 OR!) zu berücksichtigen sind, erscheint es ratsam, hierfür professionelle Unterstützung beizuziehen.
Auzug aus COVID-19-Verordnung 2 [SR 818.101.24] vom 13. März 2020 (Stand am 20. Juni 2020):
Art. 10c1Pflichten des Arbeitgebers betreffend Schutz der Gesundheit von besonders gefährdeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
1 Der Arbeitgeber ermöglicht seinen besonders gefährdeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ihre Arbeitsverpflichtungen von zu Hause aus zu erfüllen. Er trifft zu diesem Zweck die geeigneten organisatorischen und technischen Massnahmen.
2 Ist es nicht möglich, die angestammte Arbeitsverpflichtung von zu Hause aus zu erfüllen, so weist der Arbeitgeber der betroffenen Arbeitnehmerin oder dem betroffenen Arbeitnehmer in Abweichung vom Arbeitsvertrag bei gleicher Entlöhnung eine gleichwertige Ersatzarbeit zu, die von zu Hause aus erledigt werden kann. Er trifft zu diesem Zweck die geeigneten organisatorischen und technischen Massnahmen.
3 Ist aus betrieblichen Gründen die Präsenz besonders gefährdeter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ort ganz oder teilweise unabdingbar, so dürfen diese in ihrer angestammten Tätigkeit vor Ort beschäftigt werden, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
a. Der Arbeitsplatz ist so ausgestaltet, dass jeder enge Kontakt mit anderen Personen ausgeschlossen ist, namentlich indem ein Einzelraum oder ein klar abgegrenzter Arbeitsbereich unter Berücksichtigung des Mindestabstandes von 2 Metern zur Verfügung gestellt wird.
b. In Fällen, in denen ein enger Kontakt nicht jederzeit vermieden werden kann, werden angemessene Schutzmassnahmen nach dem STOP-Prinzip ergriffen (Substitution, technische Massnahmen, organisatorische Massnahmen, persönliche Schutzausrüstung).
4 Ist es nicht möglich, die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach den Absätzen 1–3 zu beschäftigen, so weist ihnen der Arbeitgeber in Abweichung vom Arbeitsvertrag bei gleicher Entlöhnung eine gleichwertige Ersatzarbeit vor Ort zu, bei der die Vorgaben nach Absatz 3 Buchstaben a und b erfüllt sind.
5 Bevor der Arbeitgeber die vorgesehenen Massnahmen trifft, hört er die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an.
6 Die betroffene Arbeitnehmerin oder der betroffene Arbeitnehmer kann die Übernahme einer ihr oder ihm zugewiesenen Arbeit ablehnen, wenn der Arbeitgeber die Voraussetzungen nach den Absätzen 1–4 nicht erfüllt oder wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus trotz der vom Arbeitgeber getroffenen Massnahmen nach den Absätzen 3 und 4 aus besonderen Gründen als zu hoch für sich erachtet. Der Arbeitgeber kann ein ärztliches Attest verlangen.
7 Ist es nicht möglich, die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach den Absätzen 1–4 zu beschäftigen, oder lehnen diese die zugewiesene Arbeit im Sinne von Absatz 6 ab, so stellt der Arbeitgeber sie unter Lohnfortzahlung frei.
8 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer machen ihre besondere Gefährdung durch eine persönliche Erklärung geltend. Der Arbeitgeber kann ein ärztliches Attest verlangen.
GOURMET-Rechtsartikel 2020/07+08
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